Liebe Macher/innen, Mitwirkende und Besucher/innen des Kulturfestivals HINSCHAUEN,
leider ist es mir zurzeit nicht möglich, nach Berlin zu kommen. Ich wünsche dem Festival viele engagiert Hinschauende und bin mir sicher, dass das Projekt zu einem Mehr an Miteinander zwischen Menschen mit und ohne Obdach beiträgt.
Obdachlosen Menschen begegnen wir beinahe täglich und doch scheinen sie für viele wie eine eigene Spezies, mit der es kaum Berührungspunkte gibt oder geben soll. Das Berliner Kulturfestival „Hinschauen“ zu Obdach- und Wohnungslosigkeit bietet nun genau jenen Bühne und Podium, an denen sonst schnell vorbeigeschaut wird.
Denn statt Zuwendung erfahren die Notleidenden immer häufiger Abwendung und Ausgrenzung. In der Nazizeit wurden Wohnungslose als so bezeichnete„Asoziale“ registriert, in der Aktion »Arbeitsscheu« in Konzentrationslager gesperrt und dort mit besonderer Brutalität gequält. Viele der Opfer überlebten die Torturen nicht. Das Stigma »asozial« aber überdauerte die Hitlerzeit in vielen Köpfen hingegen bis heute und wird im Neusprech mit verachtendem Dünkel als „asi“ oder „Penner“ diffamiert.
Obdachlosigkeit kann jeden treffen. Sozialer Stand oder gute Bildung sind kein umfassender Schutz. Oft genügt ein Schicksalsschlag, eine Verkettung tragischer Umstände, so dass man die Miete nicht mehr zahlen kann. Behörden stellen den Betroffenen ein Ultimatum bis wann sie in eine neue, preiswertere Wohnung umziehen müssen. Da es gerade in Städten viel zu wenig und noch viel seltener preiswerten Wohnraum gibt, wird dabei bürokratisch-gefühllos ignoriert. Ohne Wohnungsnachweis keine Arbeitsstelle, ohne Nachweis eines Arbeitsplatzes keine Wohnung! So landen viele in Notunterkünften, was den Absturz in aller Regel noch beschleunigt, oder direkt auf der Straße oder – vielleicht vorher noch – wenn sie Glück haben, auf dem Sofa von Bekannten.
Während meiner Zeit als Obdachloser für die Reportage „Unter Null – Die Würde der Straße“ lernte ich z.B. einen Mann kennen, der in seinem früheren Leben selbst ehrenamtlich für die Tafel tätig gewesen war, jetzt übernachtete er in einer Parkanlage inmitten der Stadt, und war nicht einmal mehr in der Lage, sich bei der Kölner Tafel selbst zu versorgen.
Auch Richard Brox, der bei diesem Festival aus seinen Büchern „Kein Dach über dem Leben – Biographie eines Obdachlosen“ (2018) und „Deutschland ohne Dach – Die neue Obdachlosigkeit“ (2023) liest, lebte drei Jahrzehnte auf der Straße. Ich kenne ihn seit etwa 15 Jahren. Richard hat damals die Internetseite „Ohne Wohnung – was nun“ aufgebaut, die bis heute hilfreiche Adressen und Bewertungen von Einrichtungen auflistet. Er hat seitdem sein Engagement weiter vertieft, setzt sich zum Beispiel für sterbenskranke obdachlose Menschen ein. Richard Brox ist einer, der ins Leben gefunden hat.
Dass in einem so reichen Land wie Deutschland die Zahl der Wohnungs- und Obdachlosen weiter steigt, passt zur Lage der Nation: Die Vermögensverteilung ist in Deutschland noch nie so ungerecht gewesen. Die untere Hälfte der Menschen – also 40 Millionen Menschen – besitzt gerade mal ein Prozent des wirtschaftlichen Gesamtvermögens. Das unterste Drittel ist nahezu mittellos oder hat Schulden. 45 hyperreiche Familien besitzen mehr als die ärmere Hälfte der Bevölkerung, also 40 Millionen Menschen, Tendenz weiter steigend. Allein die zehn reichsten Deutschen haben mehr als 210 Milliarden Euro an Vermögenswerten abgegriffen und gebunkert, auch hier: Tendenz steigend. Reiche werden immer reicher, Arme immer zahlreicher und es wird wie ein Naturgesetz hingenommen.
Die sichtbare Armut auf der Straße ist eng verbunden mit dem weniger sichtbaren Stillstand im Wohnungsbau. Wenn dann gebaut wird, liegt der Fokus meist auf Wohnungen für Gutverdiener oder überteuerten Luxusimmobilien, die für ärmere Menschen keinen Raum bieten und bieten sollen.
Was könnte gelingen, wenn in diesem Land eine den Menschen zugewandte Wohnungs- und Armutspolitik betrieben würde? Nicht alle Verantwortung lässt sich an staatliche Institutionen abschieben. Insofern trifft zu, dass jeder Einzelne, wir alle gefordert sind. Wir müssen hinschauen. Wir müssen von Gleich zu Gleich Kontakt aufnehmen.
Das „Hinschauen“ Kulturfestival setzt genau hier an. Es vermittelt neue, für manche bisher unbekannte, Lebensrealitäten: Etwa mit einer Fotoausstellung von Menschen in Obdachlosigkeit, eine Theaterperformance, eine Audioinstallation oder einem Fest der Berliner Straßenmusiker/innen. Mein Respekt für dieses Engagement und die Leistung aller Beteiligten!
Ich wünsche Euch allen für die nächsten zwei Wochen viel Austausch, neue Erfahrungen und Perspektiven, damit das Kulturfestival zu Obdach- und Wohnungslosigkeit gesellschaftliche Aufmerksamkeit erzeugt und neue, nachhaltige Impulse setzt!
Auf ein gelungenes Festival!
Solidarische Grüße
Euer Günter Wallraff